„Kindeswohl und Kinderschutz stehen noch nicht an erster Stelle“

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In der katholischen Jugendverbandsarbeit machen wir uns dafür stark, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Warum das unbedingt notwendig ist, erzählt uns Yu Niedermayer von der KjG im Interview.

 

Schon seit 1992 gilt die UN-Kinderrechtskonvention. Im Grundgesetz sind die Kinderrechte aber immer noch nicht verankert. Welche Vorteile würden sich durch eine Verankerung für Kinder und Jugendliche ergeben?

Yu: Bevor wir von Vorteilen sprechen, ist mir wichtig, eines festzuhalten: Es geht bei der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz um die Umsetzung dessen, was Deutschland mit der Ratifizierung der KRK bereits 1992 zugesagt hat. Es geht um die konsequente Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als eigenständige, mit besonderen Rechten ausgestattete, Individuen. Bislang werden Kinder und Jugendliche in der Rechtsprechung eher als passive Objekte verhandelt. Das ist aus meiner Perspektive falsch und trägt auch dazu bei, dass Kindeswohl und Kinderschutz noch nicht an erster Stelle stehen.
Und als nächstes würde ich gerne die Frage umkehren und fragen, was die Nachteile wären? Mal ganz im Ernst: die Vorteile sind, dass wir verbindlich Kinderrechte ernst nehmen, und zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir auch konstatieren, dass Kinderrechte dadurch faktisch gestärkt werden. Als Gesellschaft und auch in Politik und den Rechtswissenschaften würden wir uns dazu bekennen, dass tatsächlich alle Menschen mit gleicher Würde ausgestattet sind – unabhängig ihres Alters in diesem Fall. Der Staat wird in die Verantwortung genommen, für kindgerechte Lebensbedingungen zu sorgen und das Kindeswohl an erste Stelle zu setzen.
Für mich persönlich besteht der größte Vorteil darin, dass wir so Kinder und Jugendliche nicht mehr nur als unsere Zukunft, sondern auch gleichermaßen als unsere Gegenwart begreifen würden. Kinder und Jugendliche sind Expert*innen ihrer Lebenswelt und haben konkrete Vorstellungen davon, wie Zusammenleben funktionieren kann. Und letzten Endes trägt eine starke Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz zur Stärkung von Kinderschutz bei. Wieso? Weil wir die Kompetenzen von Kindern viel mehr in den Fokus stellen müssten und damit Kinder und Jugendliche in ihren Fähigkeiten und Rechten empowern würden. Im Übrigen könnten auch konkrete Beschwerdewege leichter zugänglich werden, sodass Kinder und Jugendliche nicht von der Gunst Erwachsener abhängig sind, ob Missstände angeklagt werden können oder nicht. Damit stünde auch Kindern und Jugendlichen endlich das gleiche zu wie allen anderen Träger*innen von Grundrechten: die eigenen Rechte einklagen zu können.                                    

Hätte auch der Rest der Gesellschaft, also Menschen über 18 Jahren, etwas davon?

Yu: Ja, natürlich. Wenn wir über verbindlichere Beteiligung sprechen, dann erfahren auch Menschen über 18 Jahren mehr davon, wie sehr Kinder und Jugendliche unsere Gesellschaft gestalten. Ich denke, dass an vielen Stellen beeindruckender Austausch entsteht. Wir fördern intergenerationalen Dialog und von einer gerechteren Gesellschaft profitieren wir eben alle und nicht nur einzelne.
Abgesehen davon scheint mir das nicht die entscheidende Frage zu sein. Für mich müssen Grundrechte – und damit auch Kinderrechte – gewährt werden, ohne zu fragen, welcher Nutzen dabei für die übrige Gesellschaft entsteht. 

Die letzte Koalition hatte sich eigentlich auf die Aufnahme der Kinderrechte im Grundgesetz geeinigt. Warum ist das Vorhaben letztlich gescheitert?

Yu: Letztlich ist das Vorhaben gescheitert, weil man sich über die Formulierung nicht einig werden konnte. Es gab einen Formulierungsvorschlag, der vorsah, dass Kinderrechte angemessen zu berücksichtigen sind. Da haben sich aber Fachorganisationen dagegen gewehrt. Wir als BDKJ und auch die Jugendverbände im DBJR fanden das auch nicht gut. Unter anderem weil die UN-KRK sagt, dass die Interessen von Kindern und Jugendlichen vorrangig zu berücksichtigen sind. Aus unserer Perspektive darf die Formulierung im Grundgesetz auf keinen Fall hinter der Kinderrechtskonvention zurückbleiben. Das wäre aber passiert, wenn man die Formulierung vorrangig nicht genommen hätte. Und die Einigung ist für mich auch deshalb gescheitert, weil vermeintlich juristische Problemlagen als unlösbar vorgeschoben wurden. Da gibt es aber auch Gutachten, z.B. vom Deutschen Kinderhilfswerk, die sich damit auseinandergesetzt haben und Möglichkeiten der sinnvollen Umsetzung sehen. Ich unterstelle, dass die Umsetzung gescheitert ist, weil Parteien eindeutig Klientelpolitik betreiben. Naja, und Kinder haben eben aktuell keine Lobby. Das wäre auch noch ein Vorteil – Kinder und Jugendliche müssten automatisch in den Interessenfokus der politischen Parteien rutschen, wenn Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden und vor allen Dingen Beteiligung verbindlich gestaltet wird.

Der Formulierungsvorschlag wurde damals kritisiert, auch wegen der fehlenden Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Warum ist uns die Beteiligung von jungen Menschen als Jugendverbände so wichtig?

Yu: Ich habe das an verschiedenen Stellen schon angeschnitten: In den Jugendverbänden wissen wir, dass Kinder und Jugendliche Expert*innen ihrer selbst sind. Wir sind historisch gewachsen in unseren Strukturen, weil Kinder und Jugendliche sich selbstorganisiert zusammenschließen, um ihre Interessen zu wahren und auch zu vertreten. Wir alle haben ein Bedürfnis, unser Umfeld nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Das funktioniert besser, wenn auch politisch die Rechte dafür klar gegeben sind. Wir kämpfen natürlich auch dort, wo wir rechtlich, gesellschaftlich, politisch, juristisch oder auch kirchlich noch nicht ausreichend anerkannt sind. Solche Kämpfe zum Ziel zu bringen, ist eben immer dann leichter, wenn verbindlich Beteiligung gewährleistet wird. Es geht uns darum, alle Menschen ernst zu nehmen und gemeinsam um die beste Lösung zu ringen. Das ist vielleicht manchmal anstrengend, aber es lohnt sich immer. Und nur weil ich irgendwann mal von einer auf die nächste Sekunde 18 Jahre alt geworden bin, habe ich keine besondere Eingebung erhalten. Oder war plötzlich im Schlaf wahnsinnig viel kompetenter bzw. besser informiert oder was auch immer. Altersgrenzen werden willkürlich gezogen, wir müssen uns alle ein bisschen anstrengen, geeignete Mittel zu finden, um möglichst viele Menschen zu beteiligen. Und je mehr wir mit Menschen sprechen, statt über sie zu sprechen, desto sensibler sind wir für deren Bedürfnisse. Ein achtsamer Umgang miteinander, gegenseitiges Zuhören und sich annähern tut uns nicht nur im Mikrokosmos Verband gut, sondern bleibt wichtiger Auftrag als Gesamtgesellschaft. Da wo Menschen Möglichkeiten zur Beteiligung erhalten, stärken wir aktiv unsere Demokratie. Und das ist aktuell so nötig wie vielleicht schon lange nicht mehr.

Kritiker*innen haben häufig Angst vor der Schwächung der Elternrechte. Was ist dran?

Yu: Diese Kritik eröffnet eine Gegenüberstellung, die ich als nicht zutreffend empfinde. Der Schluss liegt nahe, dass ab sofort Eltern und Kinder gegeneinander ausgespielt werden würden. Dem ist aber nicht so. Auch jetzt haben Eltern per Gesetz Rechte, die in Bezug zur Erziehung ihrer Kinder stehen. Auch jetzt geht es schon darum, dass Kinder dennoch Ansprüche, beispielsweise auf eine gewaltfreie Erziehung, haben. Und auch was die Eingriffsrechte des Staates angeht: Die KRK verpflichten Staat und Eltern gleichermaßen zur Verwirklichung der Kinderrechte im Sinne des Kindeswohls. Letztendlich finde ich es wichtig, klarzustellen, dass auch bislang das Elternrecht nach Artikel 6 zum Wohle des Kindes existiert. Daher scheint mir die Sorge so seltsam, die verbindliche Aufnahme der Kinderrechte würde Eltern in irgendeiner Form in der Wahrung ihrer Rechte einschränken.  

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