Feminismus in Deutschland

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Yvonne Everhartz bei Podiumsdiskussion in Moskau

Yvonne Everhartz, Referentin für Jugendpolitik, Mädchen- und Frauenpolitik und Genderfragen in der BDKJ-Bundesstelle, hat im März 2018 als Expertin am Internationalen Symposium „Women, Men and the Brave New World“ in Moskau teilgenommen. Das Symposium wurde veranstaltet von „EEAS - Delegation of the European Union to Russia“. Im Nachgang wurde sie von der russischen Journalistin Julia Smirnova zu Feminismus in Deutschland und zum Engagement des BDKJ interviewt. Das Interview ist im Original hier erschienen http://www.colta.ru/articles/mosty/18027. Wir dürfen die deutsche Version bei uns im Blog veröffentlichen:

 

Du bist Feministin und arbeitest im Verband der Deutschen Katholischen Jugend. Nun denkt man bei der Katholische Kirche eher an die klassischen Geschlechterrollen. Wie wird bei den jungen Katholiken über Genderfragen diskutiert?
In unseren Verbänden haben wir eine große Bandbreite an Vorstellungen von der Kirche oder davon, was es heißt, katholisch zu sein. Wir haben Menschen, die das sogenannte klassische Familienbild leben. Und in der jungen Generation besteht eine größere Offenheit dazu, Dinge zu diskutieren, als in anderen Teilen der Kirche.

Zum Beispiel?
Vor ein paar Wochen hatten wir zum Beispiel eine Frauenkonferenz, da ging es um Frauen in der Kirche. Es gibt eine Forderung, dass es in der katholischen Kirche eine Frauensynode geben soll, um Frauenthemen zu diskutieren. Unser Verband hat diese Forderung unterstützt. Im Jahr davor haben wir über Sexismus im Alltag gesprochen – in den Medien, in der Musik, in der Werbung. 

Was fällt dir im Alltag in Deutschland besonders auf?
Ich persönlich finde zum Beispiel immer die unterschiedlichen Farben vom Kinderspielzeug und Kleidung besonders krass. Wenn ich in ein Geschäft gehe und ein Geschenk für mein Patenkind kaufen möchte, dann gibt es oft nur eine Auswahl zwischen Rosa oder Blau. Eine Bekannte wollte neulich Socken für ihr Kind kaufen. Die Verkäuferin fragte sie: „Ist es für einen Jungen oder ein Mädchen?“ und sie antwortete einfach nur: „Für Füße“. Ich würde mir wünschen, dass man nicht schon bei kleinen Menschen anfängt, sie in männlich oder weiblich einzuteilen. Das finde ich sehr sexistisch und überflüssig.

Wie groß sind heute in Deutschland noch Unterschiede in der Erziehung von Jungen und Mädchen?
Es gibt jetzt eher einen Schritt zurück. In manchen Punkten war man schon mal weiter. Mein Patenkind tanzt seit vielen Jahren. Er hat mit sechs angefangen, Ballett zu tanzen. Immer wenn ich ihm ein Buch über Ballett zum Geburtstag schenken wollte, fand ich nur Bücher, in denen Mädchen die Hauptrolle spielen. Das fand er doof, weil er sich ein Vorbild wünschte, das ihm näher steht.

Und wie sah das während deiner Kindheit aus?
Ich glaube, ich hatte viel Glück in meiner Kindheit und Jugend. Ich habe sehr tolle Eltern, die mir geholfen haben, meinen individuellen Weg zu gehen und mich stark in dem unterstützt haben, was ich machen wollte. Das ist nicht selbstverständlich, so aufzuwachsen. Ich kann also nicht sagen, dass mir klassische Rollenmuster in der Kindheit nahegelegt worden sind. Einmal wurde ich auf einer Party gefragt: „Ich habe gehört, du bist Feministin. Bist du als Kind so oft diskriminiert worden? Oder warum bist du Feministin geworden?“. Ich war von dieser Frage sehr irritiert, weil für mich Feminismus nicht unbedingt etwas mit Diskriminierung zu tun hat, sondern viel mit Solidarität. Ich kann mit Frauen solidarisch sein, denen Gewalt widerfahren ist, ohne dass es mir selbst passiert ist.

Was machst du, wenn du heute in Situationen gerätst, in denen du dich dagegen wehren musst, in bestimmte Rollenmuster eingeordnet zu werden?
Wenn mir das passiert ist, habe ich das oft mit einem witzigen Spruch gekontert. Zum Beispiel wenn es in einer Freundesgruppe darum geht, wer kocht, und jemand sagt, die Frauen können doch kochen. An dieser Stelle habe ich gesagt: „Warum, der Typ da drüben kann auch gut kochen“. Es kommt aber natürlich sehr auf die Situation an.

Wie wurde in Deutschland und in deinem Bekanntenkreis über #metoo diskutiert? 
Wie hatten in Deutschland schon 2013 eine ähnliche Diskussion über den Hashtag #aufschrei. Da ging es auch um sexuelle Gewalt und Grenzüberschreitung. Jetzt haben sich auch viele prominente Frauen daran beteiligt und öffentlich gesagt, dass es ihnen auch passiert ist. Das ist für mich das wichtigste Ergebnis. Ganz normale Frauen wissen jetzt, dass es andere Frauen gibt, denen das schon mal passiert ist. Die Frauen werden nicht damit alleine gelassen, und ihre Erfahrungen werden nicht in Frage gestellt. Am prominentesten wurde in Deutschland der Fall des Regisseurs Dieter Wedel diskutiert. Mehrere Schauspielerinnen haben in der „Zeit“ über sexuelle Übergriffe durch ihn in den 80er Jahren berichtet. Mich hat am meisten schockiert, dass es ganz viele Menschen am Produktionsset wussten. Sie wussten, warum die Schauspielerin an einem bestimmten Tag nicht zum Dreh gekommen ist. Und trotzdem hat ihr niemand gesagt, wir gehen zusammen zur Polizei oder zum Arzt, ich kann dich unterstützen.

Hast du darüber auch mit deinen männlichen Freunden gesprochen?
Manchmal hat schon mal ein Freund von mir gesagt: „Ich weiß nicht mehr, wie ich mich jetzt Frauen gegenüber verhalten soll“. Dann frage ich: „Was macht dich so unsicher? Überlege doch mal, was für ein Verhalten du von anderen dir gegenüber erwartest.“ Wenn man die Kraft und Mut dazu hat, muss man diese Diskussion führen, weil man Menschen diesen Erkenntnisgewinn zugestehen muss. Am Anfang sind sie vielleicht nicht so sicher, aber nach dem Gespräch sagen sie: „Ich habe jetzt ein paar Dinge verstanden.“ Aber wenn man vom Anfang an sagt, du musst doch wissen, wo die Grenze ist, warum weiß du das nicht, du Macho, ist es nicht immer hilfreich.

Oft fühlen sich oft Männer persönlich angegriffen, wenn die Debatte beginnt. Auch wenn es um generelle Probleme geht, fühlen sich viele ganz persönlich angeklagt. Ich frage mich, wie man ihnen diese Unsicherheit nehmen kann.
Ja, aber auf der anderen Seite müssen sie schon reflektieren, was sie an ihrem Verhalten ändern müssen. Männer haben einfach eine machtvollere Position in unseren Gesellschaften und ich finde es gut, wenn sie darüber nachdenken.

Meistens geht es bei solchen Gesprächen um Verschiebung von Grenzen. Kann man sie jetzt überhaupt definieren?
Diese Grenzen sind natürlich individuell und das macht alles natürlich schwierig. Einige Frauen finden es weniger schlimm, wenn ihnen „Hey Schätzchen“ zugerufen wird, andere finden es fürchterlich. Es kommt immer darauf an, was die Frau selbst als Grenzverletzung versteht. Oder der Mann genauso. Und dann gibt es natürlich Dinge, die vom Strafrecht definiert werden.

Auch in Kunst, Literatur oder Werbung verschieben sich die Grenzen davon, was als sexistisch gilt. Wie soll man aus deiner Sicht damit umgehen?
Das finde ich auch sehr schwierig. In Deutschland gibt es gerade sehr viele solche Diskussionen. Zum Beispiel über das Gedicht „Avenidas“. Oder über Rassismus in Kinderbüchern, wo es darum ging, ob bestimmte Wörter gestrichen oder ersetzt werden sollen. Gerade bei Kunst und Kultur finde ich es schwer, solche Fragen zu beantworten. Ich möchte eigentlich kein sexistisches Gedicht an der Wand einer Uni lesen. Ich möchte auch keine sexistische Werbung jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit sehen. Aber gerade im Bereich Kultur und Literatur kommt es stark auf Kontextualisierung an. Dazu zu schreiben, in welcher Zeit und unter welchen Umständen das Werk entstanden ist, hilft an manchen Stellen zu verstehen, dass es jetzt nicht mehr der Stand der Dinge ist.

Wird es jetzt ausreichend in Schulen gemacht, wenn über Literatur gesprochen wird?
Um das zu machen, brauchen wir mehr Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer. Ich glaube, dass auch die Schule ganz wichtig ist. Sie soll junge Menschen über Internet, Social Media und sexistisches Verhalten aufklären. Und dafür müssen Lehrerinnen und Lehrer in der Lage sein, Schülerinnen und Schülern so etwas zu vermitteln.

Wie oft musst du in deinem Alltag über Genderthemen streiten?
Ich habe tatsächlich viele Freundinnen und Freunde, die feministisch aktiv sind. Und natürlich sprechen wir häufig darüber. Aber ich habe das Gefühl, dass jetzt auch in der breiten Öffentlichkeit viel mehr darüber diskutiert wird. Eine Freundin von mir arbeitet in einem Social-Media-Unternehmen und die Kollegen wissen, dass sie Feministin ist. In der Mittagspause kamen in der letzten Zeit häufiger Kollegen zu ihr und fragten: Kannst du uns jetzt erklären, was bei der #metoo-Debatte der Schwerpunkt ist oder worum es jetzt bei der Diskussion über die Abschaffung des Paragraphen 219a geht.

Merkst du Veränderungen darin, wie Menschen miteinander flirten?
Ich glaube, dass durch die ganze Debatte eine größere Offenheit besteht, über diverse Sachen zu reden. Eine Freundin wurde neulich in der U-Bahn von zwei Typen blöd angesprochen. Bald darauf haben wir uns getroffen und sie erzählte über diesen Fall. Vielleicht hätte sie es früher auch gemacht, aber jetzt ist die Bereitschaft viel größer, über solche Fälle offen zu sprechen. Viele Frauen fühlen sich ja blöd dabei und denken, vielleicht bin ich doch schuld, vielleicht hatte ich etwas Falsches an, dass sie mich so angemacht haben. Aber jetzt denken viel mehr Frauen: Nein, ich bin nicht schuld daran und ich kann es meinen Freundinnen erzählen. 

Hat diese Debatte auch Einfluss auf Entscheidungen von Paaren, bspw. ob Mann oder Frau die Elternzeit nehmen soll?
Klar muss jedes Paar selbst entscheiden, wer die Elternzeit nimmt oder aus anderen Gründen im Job kürzer tritt. Aber ich glaube, dass jetzt mehr Bewusstsein dafür herrscht, dass es bei diesen Entscheidungen strukturelle Probleme gibt. Zum Beispiel gibt es im deutschen Steuersystem immer noch finanzielle Anreize für das Modell, bei dem der Mann mehr und die Frau weniger verdient. Das kann anders gestaltet werden. Dafür gibt es jetzt größeres Bewusstsein. Auf der anderen Seite ist es immer noch so, dass sogar viele Paare, die ganz gleichberechtigt leben und Entscheidungen treffen wollen, es nur so lange machen, bis das erste Kind geboren wird. Und wenn das Kind da ist, sagen sie, na gut, jetzt bleibt vielleicht doch die Frau erst mal zu Hause und der Mann geht wieder arbeiten, weil er mehr verdient. Aber auch das ist kein individuelles Problem, sondern ein Problem der Gesellschaft. Berufe, in denen vor allem Frauen tätig sind, sind oft schlechter bezahlt als Berufe, in denen vor allem Männer tätig sind. Wenn wir das auflösen, wenn eine Altenpflegerin genau so viel verdient wie ein Kfz-Mechaniker, dann habe viele Frauen im ihrem Leben bei dieser Entscheidung nicht das gleiche Problem. Dann wird man nicht mehr sagen können, die Frau nimmt automatisch die Elternzeit, weil sie weniger verdient.

Wie fühlst du dich dabei als junge Frau in Deutschland – kannst du alles erreichen?
Natürlich denkt man bis zu einem gewissen Punkt: Ich kann alles schaffen. Mir ist aber als Feministin die Solidarität sehr wichtig. Mit geht es gar nicht so sehr darum, ob ich alles schaffen kann. Ich möchte, dass andere Frauen in ihrem Leben auch selbstbestimmt leben können und das schaffen können, was sie schaffen wollen. Ich möchte nicht unbedingt eine Vorstandsvorsitzende bei der Deutschen Telekom werden, aber es gibt Frauen, die das gerne möchten. Und es ist mir als Feministin wichtig, dafür zu streiten, dass diese Frauen das können. Deshalb kann ich das nicht für mich alleine beantworten.

Was machst du dafür?
Ich finde es wichtig, mit jungen Menschen zu arbeiten und ihnen klar machen, dass es noch keine Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Deutschland gibt. Dass im Bundestag nur ein Drittel von Abgeordneten Frauen sind oder dass es immer noch einen zu großen Gender Pay Gap gibt. Ich gehe zu Demonstrationen und nehme an Podiumsdiskussionen teil. Wenn wir uns mit vielen Menschen zusammenschließen, auch mit Menschen aus anderen Ländern, die das Gleiche wollen, dann können wir ganz schön viel erreichen. 

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