Neetu darf zur Schule gehen

Einsatz der Sternsingerinnen und Sternsinger zeigt im Norden Indiens Erfolg

Neetu und ihre Freundin Jyoti können jetzt zur Schule gehen (Bild: Vivek Singh / Kindermissionswerk)

In Firozabad, Indiens „Glass City“, arbeitet ein großer Teil der Bevölkerung in der Glasindustrie. Viele Familien in den Armenvierteln der Stadt im Norden Indiens verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung von Armreifen aus Glas. Mehr als 200.000 Kinder schmelzen von früh morgens bis spät abends Rohlinge oder verzieren fertige Reifen mit Steinchen und Glitter. Was in einer Schule passiert, das wusste bisher keines der Kinder so wirklich. Dank der Hilfe der Sternsinger können sie seit Kurzem selbst zur Schule gehen  – auch die neunjährige Neetu. Während ihrer zurückliegenden Aktion hatten sich die Sternsinger unter dem Leitwort „Gemeinsam gegen Kinderarbeit – in Indien und weltweit!“ gegen ausbeuterische Kinderarbeit eingesetzt. Neetu war dabei eines der Mädchen, das im Aktionsfilm und in den Bildungsmaterialien vorgestellt worden war. Besonders ihr Schicksal hatte viele Sternsingerinnen und Sternsinger sehr berührt.

Stolz zieht Neetu ihren Schulranzen an und macht sich auf den Schulweg. Nach und nach gesellen sich ihre Freundin Jyoti und andere Jungen und Mädchen aus dem Stadtviertel dazu, bis wenige Minuten später eine fröhliche Kinderschar durch die engen Gassen Richtung Schule zieht. Sie wollen auf gar keinen Fall zu spät zum Unterricht kommen. Was bei deutschen Mädchen und Jungen manchmal eher eine lästige Pflicht ist, erfüllt die Kinder in Firozabad mit großem Stolz: Seit einigen Monaten dürfen sie endlich in die Schule gehen und lernen. Dabei sah ihr Tagesablauf zuletzt noch ganz anders aus.

Wie die meisten Familien in der Armensiedlung der Millionenstadt arbeitet auch Neetus Familie in der Herstellung von Glasarmreifen. Nach dem Tod des Vaters vor rund drei Jahren hatte Neetu dessen Arbeitsplatz eingenommen. In einem dunklen Raum saß das Mädchen seither täglich im Schneidersitz vor einer Flamme, die Beine an den Knien von zwei Ziegelsteinen gestützt. Neben Neetu arbeiteten ihre Mutter Dhan Devi und ihre Brüder Raj Kishore und Bholay und schmolzen von fünf Uhr morgens bis acht Uhr abends bunte Glasringe – rote, blaue, grüne. Dass anderswo Kinder nicht arbeiten müssen, dass sie zur Schule gehen, sich mit Freunden treffen und spielen können, konnte Neetu sich früher nicht vorstellen.

Täglich vier Stunden für die Schule – der erste wichtige Schritt zum Ziel Dilip Sevarthi, Projektpartner der Sternsinger, hat Neetu und die Kinder in ihrem Stadtviertel besucht. „Ich habe Fünfjährige gesehen, die schon arbeiten müssen“, erzählt er. Wie wichtig Bildung für ihre Tochter ist, davon konnte er Neetus Mutter schnell überzeugen. Doch gleichzeitig ist sie auf das Einkommen ihrer Tochter angewiesen, um Miete und Essen zu bezahlen. Außerdem musste sie einen teuren Kredit aufnehmen, als der Vater erkrankte und Medikamente benötigte. Inzwischen darf Neetu ihre Arbeit für vier Stunden am Tag unterbrechen, um zur Schule zu gehen. Irgendwann soll die Familie nicht mehr auf ihre Arbeit angewiesen sein.

Für die Mütter im Viertel gründete Dilip Sevarthi daher eine Frauenselbsthilfegruppe, die ebenfalls von den Sternsingern unterstützt wird. Dort können sich die Frauen austauschen. Jede von ihnen zahlt zudem monatlich einhundert Rupien – rund 1,40 Euro – auf ein gemeinsames Sparbuch ein. Die Gruppe entscheidet, wer von den Mitgliedern über dieses Konto einen zinslosen Kredit bekommt – etwa um ein Geschäft zu eröffnen, eine Ziege oder eine Kuh anzuschaffen. Die Tiere liefern nicht nur Nahrung, sondern auch ein Einkommen. Das soll den Kindern den Schulbesuch ermöglichen und ihre Arbeit auf lange Sicht überflüssig machen. Dass Neetu nun regelmäßig am Unterricht teilnimmt und nicht mehr nur arbeitet, ist der erste wichtige Schritt zu diesem Ziel.

Vier Stunden täglich lernen 120 Kinder in drei Klassen Lesen, Schreiben und Rechnen. Unterrichtet werden sie von jungen Lehrerinnen, die ebenfalls aus dem Stadtviertel stammen und mit der Situation der Kinder vertraut sind. Mit großer Inbrunst singen die Schüler Buchstabe für Buchstabe das Alphabet, um die Lettern im Anschluss in Schönschrift an die Tafel und in ihre Schulhefte zu übertragen. Bevor sie nachmittags weiter Glasarmreifen schmilzt, macht Neetu auf einem Bettgestell im Freien ihre Hausaufgaben. Auch sie hat gelernt, wie wichtig Bildung für sie ist – etwa damit sie beim Einkaufen das Wechselgeld prüfen oder ihrer Mutter wichtige Dokumente vorlesen kann. Und dass später ihr größter Wunsch in Erfüllung geht: „Ich will studieren und Ärztin werden. Dann kann ich kranken Menschen helfen.“

Außerdem treffen sich die Kinder in Neetus Viertel inzwischen regelmäßig im Kinderparlament, das ebenfalls von Dilip Sevarthi ins Leben gerufen wurde. Hier diskutieren sie Themen, die ihnen wichtig sind und sie helfen sich gegenseitig. Kommt ein Kind nicht regelmäßig zur Schule, gehen sie eigenständig zur Familie und fragen nach dem Grund. Wenn der Mitschüler wieder den ganzen Tag arbeitet, anstatt am Unterricht teilzunehmen, versuchen sie die Familie zu überzeugen, das Kind wieder zur Schule zu lassen. In 100 Armenvierteln und Dörfern hat Sevarthi mit seiner Vikas-Stiftung dieses Konzept bereits umgesetzt. „Und ich mache weiter, bis kein einziges Kind mehr arbeiten muss“, sagt er entschlossen.

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